Völkerverständigung
Farzana Farhad, Werner Gilits
Frau Zannatul steht auf der Bühne von „Wir in Ottakring und Penzing“. Vor ihr, auf einem Tisch, das Harmonium. Das Harmonium ist ein Tasteninstrument, ähnlich einer Orgel. Ein Blasebalg sorgt für Luftdruck, die Tasten des Geräts schicken die Luft an Metallstreifen, die durch den Druck in Schwingung versetzt werden und so die Töne produzieren. Maultrommeln funktionieren ganz ähnlich.
„Das Harmonium“, so Frau Zannatul, „ist eine Abwandlung der Orgel, die von deutschen Missionaren Mitte des 18. Jahrhunderts nach Indien gebracht und für den einfachen, regionalen Gebrauch umgebaut wurde.“ Die Vermutung, dass die Technologie des Harmoniums daher aus Europa stamme, liegt zwar nahe, ist aber vermutlich falsch. Wikipedia jedenfalls berichtet, dass das „europäische“ Harmonium „wohl nach chinesischen Vorbildern“ entwickelt worden ist.
Frau Zannatul ist vielseitig, sie ist Musikerin, Sängerin, Übersetzerin und Lehrerin (u.a. an der Vienna International School). Sie lehrt die Sprache Bengali, bengalischen Gesang wie Tanz und sie lehrt, das Harmonium zu spielen. Vor allem aber lehrt sie Völkerverständigung.
„Von der Geschichte können wir lernen, aber Kunst und Musik sind Erlebnisse für unsere Sinne“ lautet das Motto des Vereins BOEKA. Die „Bangladesch-Österreichische Kulturakademie“ mit Sitz in Ottakring wurde 2007 von Frau Zannatul gegründet. Mit ihren Schüler*innen präsentiert sie die vielschichtige Kultur der Bengalen auf verschiedensten Bühnen wie dem „Festival der Nationen“ in Hirschstetten, dem „Diwali“ (Lichterfest) in der Lugner City, beim „Seva India Festival“ oder bei „Wir in Ottakring und Penzing“.
Die bengalische Musik, die traditionelle ebenso wie die moderne, können wir in den VORwORTen aus technischen Gründen leider nicht wiedergeben, halten wir uns also erstmal an die Geschichte, und hören wir Frau Zannatul.
Bengalen – Bangladesch
Die Region am Golf von Bengalen, einem Teil des Indischen Ozeans, ist geprägt durch das Mündungsdelta der Flüsse Brahmaputra, Ganges und Meghna. Während der Monsunzeit werden große Teile dieses Gebiets regelmäßig überflutet, wodurch fruchtbare Erde angeschwemmt wird, die zum Entstehen einer jahretausendealten Kultur beigetragen hat.
Der lateinische Begriff „cultura“ bedeutet „bearbeiten“, „pflegen“, aber auch Ackerbau. Bengalen war seit jeher ein Zentrum für den Anbau von Reis und hochwertiger Musselin-Baumwolle. Musselin-Stoffe fanden bereits vor Jahrhunderten ihren Weg von hier bis nach Europa.
Mit ihrer eigenen Schrift, Geschichte, Philosophie, Zeitrechnung, Literatur und Musik präsentiert sich bengalisch als äußerst facettenreiche und erkundungswerte Kultur. Der Handel und Wohlstand des Landes beeindruckten die indischen Mogulherrscher im 16. Jahrhundert so sehr, dass sie die Region als „Paradies der Völker“ bezeichneten.
Heute ist dieses Paradies vom Klimawandel bedroht. Steigt der Meeresspiegel auch nur um einen Meter, so geht ein Fünftel der Fläche von Bangladesch verloren, werden dutzende Millionen Menschen zu Klimaflüchtlingen.
Die Zivilisation in der Ganges-Ebene ist über 4.000 Jahre alt. Sie hat indoarische Königreiche erlebt und buddhistische Königreiche. Danach kamen das Pala-Reich, die Sena-Dynastie, im 12. Jahrhundert moslemische Sufis, und mit ihnen moslemische Eroberer, die Moguln.
Der moslemischen Herrschaft über Indien folgte im 18. Jahrhundert die christliche des britischen Kolonialreiches. Die Ostindien-Kompanie zerschlug innerhalb weniger Jahre das Mogulreich. Das Unternehmen zerstörte riesige Anbauflächen für Nahrungsmittel, um Platz für den Anbau von Indigopflanzen für Färbemittel und Schlafmohn für die Produktion von Drogen zu schaffen. Es erhöhte die Steuern auf landwirtschaftliche Güter von 10% auf 50% und verbot die Lagerung von Reis. Damit löste die Ostindien-Kompanie eine Hungersnot aus, der ungefähr zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen, ein Drittel der damaligen Bevölkerung Bengalens.
Erst 1947 endete die Kolonialherrschaft Großbritanniens über den indischen Subkontinent. Als letzte Hinterlassenschaft teilten die Briten das Land in einen moslemischen (Pakistan) und einen mehrheitlich hinduistischen, säkularen Staat (Indien). Ostbengalen wurde Pakistan zugeschlagen, obwohl das Land geographisch weit entfernt lag. Erst 1971 erlangte Bangladesch, nach einem weiteren Völkermord, diesmal durch pakistanische Truppen, die Unabhängigkeit. Bis zu drei Millionen Bangladeschi kamen dabei ums Leben, mehr als 20 Millionen flohen nach Indien.
Eine große Sprachfamilie
„Können Sie sich die Menschheit als eine große Familie vorstellen? Dann ist die Vorstellung, dass manche, weit entfernt lebende Familienmitglieder unbekannt erscheinen, nicht abwegig.“ Dann ist auch die Vorstellung, dass die Menschen mehr gemeinsam haben als allgemein angenommen, nicht abwegig.
Die Sprache Bengali entstammt dem Sanskrit, der ältesten Schriftsprache der Welt. Und schon finden wir Gemeinsamkeiten zwischen weit entfernten Kulturen. Sanskrit war nicht nur lange Zeit die gemeinsame Sprache im südasiatischen Raum. Die indoarischen Sprachen und die indoeuropäische Sprachfamilie haben ihre Ursprünge ebenfalls im Sanskrit. Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit, Latein, Griechisch und dem Deutschen sind keinesfalls zufällig. Das betrifft sowohl die Grammatik (Geschlechter, Fälle, Zeiten) als auch bestimmte Begriffe (Dschungel, Lack, Ingwer und noch viele andere).
Heute kennen wir in Europa verschiedenste Produkte aus Bengalen, Gewürze, Tee, Indigo, Musselin, Jute, Ton. Und wir tragen, oft unter unmenschlichen Bedingungen produzierte Kleidung „made in Bangladesh“. Manch Ältere unter uns erinnern sich an Ravi Shankar, den Musiker, der nicht nur die Beatles beeinflusst hat. Er hat die indische Musik mit der westlichen verbunden, indem er Konzerte für Sitar und Orchester komponiert und Tourneen durch die ganze Welt unternommen hat.
Manch Ältere unter uns erinnern sich an die 1.000-Schilling-Banknote. Auf ihr war Bertha von Suttner abgebildet, die 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis erhalten hat. 1913 hat der bengalische Dichter, Philosoph, Maler, Komponist und Musiker Rabindranath Thakur als erster Asiate den Literaturnobelpreis erhalten. Und während Elfriede Jelinek 2004 mit dem Literaturpreis gewürdigt worden ist, ist 2006 der bengalische Wirtschaftswissenschafter Muhammad Yunus mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.
Dialog
Vor tausenden Jahren haben Migrant*innen ihren Weg nach Europa gefunden, sie haben ihre auf Sanskrit beruhenden Sprachen mitgebracht, ihre Kenntnisse über Ackerbau, ihre Kultur. Sie haben sich an die neuen Bedingungen angepasst, haben ihre Pigmentierung dem europäischen Klima entsprechend geändert. Wenn wir uns unsere kulturelle Geschichte in Erinnerung rufen, dann merken wir rasch, dass wir tatsächlich mehr gemeinsam haben, als unsere unterschiedlichen Hautfarben vermuten lassen.
Die Bangladesch-Österreichische Kulturakademie leistet mit ihren Aktivitäten einen wichtigen Beitrag zum Dialog. In farbenfroher bengalischer Tracht präsentiert Frau Zannatul mit ihren Schüler*innen Gesang und Tanz auf verschiedensten Bühnen, und dabei findet auch Geschichtliches Erwähnung. Denn nur dort, wo ein Dialog besteht, können Differenzen auf menschlicher Ebene verstanden und gelöst werden.
Der Verein BOEKA ist seit mehr als einem Jahrzehnt in Wien und Umgebung aktiv, er wird von Frau Zannatul und ihren Schüler*innen ehrenamtlich unterstützt. Die meisten Auftritte sind ehrenamtlich, denn ein weiters Motto des Vereins lautet: „Nur dort, wo ein Dialog besteht, können Differenzen auf menschlicher Ebene verstanden und gelöst werden.“ Der Verein BOEKA ist unter der E-Mail-Adresse boeka.wien@gmail.com zu erreichen.