Natur in der Stadt – brauchen wir das?
[ih] Halt machen, anlehnen, Augen schließen, Vogelgezwitscher klingt plötzlich ganz nah, die Sonne wärmt mein Gesicht und ich kann förmlich das helle Grün um mich spüren und vor meinem inneren Auge sehen. Ganz von selbst werde ich ruhig, meine Schultern sinken ein Stückchen herab, der Kopf lehnt sich nach hinten an den Baumstamm, der Lärm und die Hektik meines Alltags in der Stadt rücken immer weiter weg und ich tauche ein in die Ruhe meiner Umgebung. Augen öffnen, und wirklich, um mich herum ist‘s grün, Sonnenstrahlen tanzen zwischen den Blättern der Bäume über mir und um mich und ich fühle mich einfach wohl und zufrieden.
Ich lebe gerne in Wien, mitten in der Stadt, ich genieße die Infrastruktur, das kulturelle Leben, die kurzen Wege für Ein-kauf, Aktivitäten und Freund*innen treffen. Aber immer wieder überkommt mich Unruhe, Unzufriedenheit; da hilft mir nur eins: Raus in die Natur – und davon gibt‘s zum Glück rund um Wien noch genug.
Aber wie kann ich mir diesen Wunsch mitten in der Stadt am einfachsten erfüllen? Auf meinem Balkon! Da wuchert üppiges Grün und ermöglicht mir, meine Sehnsucht nach Natur zumindest ein bisschen zu stillen. Zwischen allem grünen Wirrwarr klappe ich den alten Holzstuhl auf und lasse mich kurz nieder.
Keine bunte Naturtapete im Zimmer, kein noch so stimmungsvoller Natur-Film kann mir dieses Glücksgefühl ersetzen, ich muss es selbst spüren, wahrnehmen, um zu begreifen, wie glücklich ich mich fühle. Naturerlebnisse sind für mich Lebenselixier – ein Grundbedürfnis, das ich immer wieder stillen muss, um nicht wie eine dürstende Pflanze einzugehen.
Und wissenschaftliche Untersuchungen belegen, was ich fühle: Natur ist ein wesentlicher Faktor für die gesunde Entwicklung des Menschen, jedoch auch für die Gesellschaft und unseren Planeten, denn ohne Natur kein Leben!
Natur- und Umweltpädagogik und Urban Gardening
In den 80er Jahren haben sich unter dem Schock einiger großer Umweltkatastrophen (Waldsterben, Chemieunfall Seveso, Nuklearkatastrophe Tschernobyl, …) viele Bürgerinitiativen und Umweltorganisationen gebildet, die bis heute ein Umdenken und Handeln einfordern. Es entwickelte sich auch eine eigene pädagogische Richtung: die Natur- und Umweltpädagogik, die sich mit der Bedeutung der Natur für den Menschen, besonders in der kindlichen Entwicklung intensiv auseinander setzt.
„Nur wer einen Stein gehoben hat, weiß, was ein Stein ist!“ Dieser Leitsatz der Naturpädagogik bringt es auf den Punkt: Um zu überleben brauchen wir ein entsprechendes Verständnis und Bewusstsein für das, was rund um uns passiert. Wir müssen begrei-fen – im wahrsten Sinn des Wortes – um die großen Zusammenhänge in unserer Umwelt und auf dem ganzen Planeten zu ver-stehen und um die Bereitschaft zu entwickeln, entsprechend zukunftsfähig zu handeln.
Der zentrale Satz der Umweltpädagogik lautet: „Was ich liebe, schütze ich.“ Lieben kann ich jedoch nur das, was ich kenne. Al-les, wozu ich eine Beziehung entwickelt und dessen Wert ich erfasst habe, möchte ich bewahren und bin bereit mich dafür zu engagieren. – Ganz freiwillig!
Das Bedürfnis „Natur zu spüren“ und nach Grün in der unmittelbaren Nähe ist in den letzten Jahren zu einem regelrechten Boom geworden: Wohnungen mit Balkonen, Terrassen und sogar kleinen Gärtchen zwischen den Hausfronten stehen hoch im Kurs. Die Pflanzenabteilungen der Baumärkte wachsen und wachsen.
Es wird gegartelt, gezupft und gepflanzt – in und um die eigenen vier Wände, aber auch im nahe gelegenen Park. Da sprießen Gemeinschaftsgärten aus der Wiese, Baumscheiben werden liebevoll bepflanzt und Leute, die sich sonst nie über den Weg laufen würden, treffen einander beim Garteln, tauschen grüne Tipps und Kochrezepte aus und helfen einander beim Pflegen, Gießen und was sich sonst noch so nebenbei ergibt. Ein neuer Trend entsteht:
Urban Gardening – gemeinschaftliches Gärtnern in der Stadt
Was uns alle verbindet: die Sehnsucht nach Kontakt mit der Natur: selbst tun, fühlen, begreifen, genießen. Natur verbindet!
Der Garten als Gesundbrunnen
„Der kürzeste Weg zur Gesundheit führt durch den Garten.“
Die Geschichte der Gärten beginnt schon sehr früh, denn bereits mit dem Sesshaftwerden begannen die Menschen Gärten anzulegen, die nicht nur der Ernährung, sondern auch der Gesundheit dienten.
In China war der Anbau und Nutzen von Kräutern für Tee schon vor einigen tausend Jahren bekannt, im alten Ägypten wurde verwirrten Menschen der Königsfamilie Spaziergänge im Garten verschrieben. Römische Ärzte behandelten ihre psychisch kranken Patienten mit Musik und Arbeit im Garten. Klostergärten waren und sind bis heute ein Refugium für Heilpflanzen und zur Erbauung ihrer Besucher*innen.
Die bunte Schönheit von Bauerngärten erfreut jedes Gemüt und dient sicherlich nicht nur als Naturapotheke. Auch die Schrebergärten, die letztes Jahrhundert rund um die Großstädte in großer Zahl entstanden sind, dienten nicht nur der Nah-rungsmittel-Produktion, sondern sehr wohl der Freude und als Ausgleich von oft harter Fabriksarbeit. Gärten haben uns immer schon fasziniert und in vielfältiger Weise beschäftigt. Auch heute ist die Sehnsucht nach einem Stückchen Grün ungebrochen: Nach einer weltweiten Studie besitzen 58 % der Menschen einen Garten, 43% sehen Gärtnern als ihre Lieblingsbeschäftigung und für 75% aller Menschen ist ein Garten unverzichtbar.
Die Menschheitsgeschichte ist also bis heute ohne Gärten unvorstellbar.
Ärzte erkannten schon lange die vielfältige positive Wirkung von Gärten, im speziellen von Gartenarbeit. Im letzten Jahrhun-dert hat sich eine eigene Fachrichtung, die „Gartentherapie“ entwickelt, bei der gärtnerische Arbeit als unterstützender Heilungs-prozess genutzt wird. Die Arbeit im Garten wird als sinnvoll, befriedigend, Struktur bildend, fordernd und fördernd erlebt und gibt Menschen sowohl mit körperlichen, als auch seelischen Schwierigkeiten Kraft und Boden unter den Füßen.
In Senior*innenhäusern werden spezielle Therapiegärten angelegt, um hochbetagten Menschen einen freud- und sinnvollen Lebensabend zu ermöglichen. Erfahrungen der Geriatriezentren zeigen, dass demente Menschen durch das Sein und Tun im Garten aktiviert werden können und wieder mehr am gemeinschaftlichen Leben teilhaben. Nicht nur Psyche und soziales Ver-halten werden gestärkt, der Garten bietet Gelegenheit, Spannungen durch Bewegung abzubauen und aggressive Impulse in sinn-volle Aktivität umzuwandeln. Reduktion von Stress und Entspannung entsteht durch sinnerfüllte, positiv empfundene Arbeit im Garten. Studien belegen, dass Gartenaufenthalte Stress-und Depressionssymptome wie Angst, Verwirrtheit und Aggressivität, reduzieren. Bluthochdruck, Atemfrequenz, Muskeltonus sinken, Tiefenatmung und Durchblutung werden angeregt und die mentale Befindlichkeit steigt deutlich, sodass weniger Medikamente eingesetzt werden müssen.
Grüne Stadt der Zukunft
Auch bei den Verantwortlichen in der Stadtentwicklung ist dieser Boom angekommen, trotz des hohen Wohnbaudruckes werden zusehends Flächen für Parkanlagen, Baumscheiben, Gemeinschaftsgärten und alternative Formen der Fassaden- und Straßengestaltung, die den Bedürfnissen nach mehr Grün in der Stadt Rechnung tragen, bereit gestellt.
Hier tut sich allerdings ein großes Spannungsfeld auf: Einerseits muss zusehens stärker verdichtet gebaut werden, um der prog-nostizierten hohen Zuwanderung und dem damit verbundenen verstärkten Wohnraum-Bedarf Rechnung tragen zu können. Zu-kunftsmodelle berechnen, dass in dreißig Jahren rund achtzig Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden!
Gleichzeitig steigt der Bedarf nach Grün in der Stadt enorm, nicht nur jedes einzelnen, sondern auch, um die Auswirkungen der mehr und mehr zu erwartenden Klimaerwärmung abmildern zu können.
Wir spüren es bereits: In der Hitze der letzten Sommer heizt sich die Stadt enorm auf, Häuserschluchten werden zu Backöfen und Gehsteige zu Bratpfannen, die auch nachts nicht mehr auf angenehme Temperaturen abkühlen. Aber das ist ein eigenes, großes Thema, dem wir in einer der nächsten Ausgaben der VORwORTE Rechnung tragen
wollen.