Eine Recherche und viele offene Fragen

„Vorne Hui, hinten Pfui“ beginnt ein Leserbrief an die VORwORTe und er fährt fort: „Die Fassade des ‚Heims für obdachlose Familien’ von Ernst Gotthelf (Wiesberggasse 13) wurde vor einiger Zeit vorbildlich renoviert, hofseitig spottet das Haus jeder Beschreibung.“ Für die Redaktion ein Auftrag zur Recherche.
Die Gasse
Das Haus Wiesberggasse 13, im Jahr 1913 errichtet, war eines der ersten in dieser Gasse, ist im Internet zu lesen. Kein Wunder, denn die Gasse selbst ist erst in diesem Jahr entstanden. Sie ist ein Abfallprodukt der Errichtung der Vorortelinie. Denn die zerschneidet die Herbststraße, und so wird 1913 der stadtauswärtige Teil dieser Straße nach Wilhelm Wiesberg benannt.
Wilhelm Georg Wiesberg (eigentlicher Name: Bergamenter), 1850 geboren, spielte bereits als Jugendlicher in Kinderkomödien am Theater in der Josefstadt und schrieb für die Zeitungen „Figaro“, „Kikeriki“, „Zeitgeist“ und „Floh“. Nach dem Börsenkrach 1873 verlor er seine Stellung bei den „Humoristischen Blättern“ und wurde zum Volkssänger. Innerhalb von vier Jahren verfasste er mehr als 1.000 Lieder sowie Kinderkomödien. Eine Gedenktafel für Wiesberg hängt an dem Haus Burggasse 94 im 7. Bezirk.
Die Architekten
Gebaut wurde das Haus Wiesberggasse 13 von den Architekten Ernst Gotthilf und Alexander Neumann, einem führenden Architekturbüro im Wien der Vorkriegszeit. Selbstverständlich haben die beiden das Gebäude nicht zu zweit errichtet, bloß Aufzeichnungen über die beteiligten Ziegelarbeiter*innen, Maurer, Handwerker*innen finden sich selten, und keine Gedenktafel erinnert an ihre Namen und Taten.
Ernst Gotthilf (einer der Begründer des Österreichischen Werkbunds) und Alexander Neumann entwarfen u.a. die Hauptfassade der Sofiensäle, das Krankenhaus der Wr. Kaufmannschaft, das Verwalterhaus der Universität für Bodenkultur, das Haus des Wiener Bankvereins (Schottengasse 6 – 8), der Länderbank (Am Hof 2), der Creditanstalt (Renngasse 2), aber auch mehrere Stiftungshäuser und Heime für obdachlose Familien.
Ernst Gotthilf musste 1939 aufgrund der Machtergreifung der Nationalsozialisten – wegen seiner jüdischen Herkunft – aus Wien fliehen. Er starb 1950 mit 85 Jahren verarmt im Exil in Oxford, England.
Die Umstände
Der Bezirk Ottakring entstand 1892 durch die Eingemeindung der Vororte Ottakring und Neulerchenfeld zum 16. Wr. Gemeindebezirk. Durch Betriebsansiedlungen und den Bau dazugehöriger Wohnhäuser verdoppelte sich die Bevölkerungsanzahl innerhalb von 20 Jahren auf ca. 180.000 Bewohner*innen. Die meisten von ihnen waren Arbeiter*innen, und viele von ihnen waren in der Sozialdemokratischen Partei organisiert.
Die Wohnverhältnisse waren zu dieser Zeit in den Vororten katastrophal, bekannt ist die Praxis der „Bettgeher“ (während die Bewohner*innen arbeiteten, vermieteten sie tagsüber ihre eigenen Betten an Nachtschichtarbeitende, um die Miete begleichen zu können). Und die Gemeindeverwaltung machte keinerlei Anstalten, die Wohnungsnot zu lindern.
Also sprangen sozial veranlagte Großbürger*innen ein, gründeten gemeinnützige Vereine und Stiftungen, die sie großzügig finanziell ausrüsteten und die u.a. Wohnheime für Obdachlose errichten ließen. Man kann das altruistisch, wohltätig nennen – man muss es sich aber erstmal leisten können. Man kann’s als Gewissensberuhigung interpretieren, als Marketing-Maßnahme, langfristige Anlage.
Das Haus
Die Presse (Zeitungsberichte gefunden unter http://anno.onb.ac.at/) berichtet, dass der „Verein Heim für obdachlose Familien“ zwei Häuser betreibt, eines in der Universumstraße im 20. Bezirk, das zweite in der Wiesberggasse 13. Insgesamt sind zu diesem Zeitpunkt 138 Erwachsene und 69 Kinder in den Häusern untergebracht.
„Der Philanthropische Verein, 8. Bezirk, Wickenburggasse 21, bittet hiezu um Gaben: Geld, Kleider, Viktualien usw., die auch, falls gewünscht, abgeholt werden. Geldbeträge für die Weihnachtsbescherung oder zum Besten des Heims ist auch die Administration dieses Blattes bereit, in Empfang zu nehmen“ schreibt die Presse.
Tatsächlich war das Haus Wiesberggasse 13 als Wohnheim geplant und errichtet. So gab es keine Wohnungen, sondern Einzelräume, es gab in jedem Stockwerk Sanitärräume für die Bewohner*innen, und es gab offenbar einen Vortragssaal, also Gemeinschaftseinrichtungen.
Bewohner*innen
Die „Freiheit!“ vom 10. Oktober 1929 berichtet über den Sozialdemokraten Josef Schuster, den von der Gemeinde eingesetzten Verwalter des Hauses. Ihm wird unterstellt, dass er Mieter*innen, die sich nicht in einem der sozialdemokratischen Vereine organisieren, kündigt. Als Beweis für diese Behauptung führt die Zeitung aus, dass Schuster den Mieter Johann Winter aus dem Haus geworfen habe, weil dieser sich der (christlich-reaktionären) Heimwehr angeschlossen habe.
Die Rede ist von „Terrorakten“ des Hausverwalters und dass dieser öffentliche Gelder verschwende, Mieter*innen unter Druck gesetzt habe, vor Gericht falsch auszusagen, und all das unter der Überschrift „Die falschen roten Zeugen – Falscher Eid ist Pflicht eines Sozialdemokraten“.
Wenige Wochen später ist in dieser Zeitung ein Widerruf zu lesen: Unwahr ist, dass über Josef Schuster wiederholt Klage geführt worden ist, unrichtig ist, dass Schuster die Bewohner*innen der Wiesberggasse 13 zwinge, sozialdemokratischen Vereinen beizutreten, unwahr ist, dass Schuster willkürlich Mieter*innen kündigt. Unwahr sind die von der Zeitung behaupteten Terrorakte Schusters, unwahr die behauptete Zeug*innenbeeinflussung Schusters und so weiter.
Die meisten Erwähnungen des Hauses Wiesberggasse 13 im Zeitungsarchiv der Nationalbibliothek betreffen Kleinanzeigen. Die Bewohnerin von Tür 27 sucht einen Job als „Wirtschafterin oder Köchin für alles, auch Kinderfrau“ (Kronen-Zeitung, 1923); „Sehr tüchtige Kontoristin, Sprachenkenntnisse, sucht Stelle, auch halbtägig“ (Neues Wr. Journal, 1931), während „Berger, Wiesberggasse 13“, eine „Strickmaschine“ zum Verkauf anbietet.
Eigentümer*innen
Am 12.10.1938 wird das Haus Wiesberggasse 13 offenbar „ari-/privatisiert“, geht es in das Eigentum der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt e.V. Berlin“ über, und bereits wenige Wochen danach scheint ein Herr „Strauss“ als neuer Eigentümer auf.
Die NS-Wohlfahrt war ein Propagandainstrument der Nazis, der Verein hat sich vor allem dadurch ausgezeichnet, dass er „die Konkurrenz“, von jüdischen, christlichen, sozialdemokratischen Vereinen betriebene Einrichtungen „übernommen“, d.h. diese enteignet hat. Offenbar liegt hier eine derartige Enteignung vor. Wer war also der „Philanthropische Verein“ mit Sitz in der Wickenburggasse?
Und wer war dieser Strauss, der innerhalb kürzester Zeit als neuer Eigentümer der Wiesberggasse 13 auftaucht? Jedenfalls dürfte er 1949 gestorben sein, denn eine Frau Hildegard Strauss scheint im Grundbuch als Erbin auf.
1961 dann eine weitere Eintragung, beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien wird ein Antrag auf Rückstellung (Restitution) eingebracht, der 1963 wieder „gelöscht“ wird. Was steckt hinter diesem Antrag, und warum wurde er wieder gelöscht? Im selben Jahr wird das Haus verkauft, später wieder vererbt, weiter verkauft und wiederum vererbt.
Die Mitarbeiter*innen
Hilfreich erweist sich die Mitarbeiterin der Grundbuchsabteilung am Bezirksgericht Hernals. Bereitwillig schleppt sie einen schweren, dicken Band herbei, geduldig bemühen wir uns – oft erfolglos – die Kurrentschrift zu entziffern.
Bereitwillig gibt die Hausverwaltung Auskunft. Ja, sie verwaltet das Haus, es gehört seit Langem den Enkeln eines Großneffen des früheren Wiener Bürgermeisters Karl Lueger. Inzwischen sind längst die Einzelzimmer zu Wohnungen zusammengelegt worden, ist Wasser in die Wohnungen eingeleitet worden, ist das Haus zu einem „normalen Miethaus“ geworden.
Ja, die Fassade ist im Sommer 2014 renoviert worden, bestätigt sie die oben zitierte E-Mail. Und ja, die Hoffassade ist in einem schlechten Zustand, erklärt sie. Das Stiegenhaus ist zuletzt um die Jahrtausendwende ausgemalt worden, sagt sie und fügt hinzu, dass die Mieter*innen immer noch günstige Mietverträge haben. Da kommen keine großen Rücklagen zustande für Renovierungen, bedauert sie. Aber es handelt sich um ein Haus mit einer offenbar gut funktionierenden Hausgemeinschaft, so die Hausverwalterin.
Bewohner*innen bestätigen diesen Eindruck, erzählen von gemeinsam verbrachten Sommernachmittagen im begrünten Hof von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Geschichte, Muttersprache – „das spielt hier keine Rolle“ sind sie sich einig. Sie genießen die kulinarischen Köstlichkeiten, die sie einander präsentieren, „die Welt im Hinterhof“. „Ausziehen können wir hier sowieso nicht“ höre ich, „weil wer kann sich heutzutage eine neue Wohnung leisten?“ Bloß, die Hoffassade gehört dringend saniert, so mein Eindruck. Die Mauer scheint bereits zu schimmeln. Verputz bröckelt ab.
Wer nun meint, „das war’s schon?“ hat recht. Viele Fragen sind offen geblieben, andere dazugekommen. Die Arbeit ist also keineswegs abgeschlossen, alle sind eingeladen, sich mit „sachdienlichen Hinweisen“ an der weiteren Recherche zu beteiligen. Mails an
redaktion@vorworte.at
wg